Zum Tod von Raymond Wolff

17. 05. 2021

Zum Tod von Raymond Wolff

 

von Klaus Wieking

 

Ray ist tot. Diese schlichte wie furchtbare Wahrheit ist in mich wie ein Schock gefahren. Ray war seit langem krank, das bezeugten wiederkehrende Krankenhausaufenthalte und eine eingeschränkte, zunehmend mühselig werdenden Lebensweise. Die Tiefe des Erschreckens, der Erschütterung ergibt sich aber nicht nur aus der Plötzlichkeit seines Todes, sondern auch daraus, dass man mit Ray nicht einfach irgendwie befreundet, sondern tief hinein gezogen war in diese schwierige Existenz mit all ihren Projekten, ihren Eigentümlichkeiten, ihrer Brüchigkeit.

Heute ist schnell und billig die Rede von einer Mission, die einer hat und feierlich verfolgt. Raymond Wolff hatte tatsächlich eine: Der in den USA geborene Sohn von deutschen Emigranten, die nur um Haaresbreite der Shoah entkommen waren, wollte wieder heimisch werden im Land seiner Vorfahren und deren Mörder. Er hat Deutschland die Hand entgegengestreckt. Diese Sehnsucht nach der verlorenen Heimat hatte wesentlich mit seinen Großeltern, vor allem mit der über alles geliebten Großmutter Rosa zu tun. Anders als seine Eltern, die nach den Naziverbrechen sich voller Bitterkeit und Abscheu vom Land ihrer Herkunft abgewandt hatten, haben die Großeltern auf der Hühnerfarm in New Jersey dem kleinen Ray auch von einem anderen, besseren Deutschland berichtet. Als Junge sei er über den amerikanischen Schulhof marschiert und habe deutsche Volkslieder gesungen, die ihm seine Großmutter beigebracht habe, hat er mir einmal erzählt – eine jener Ray-Wolff-Geschichten, die in ihrer anrührenden Skurrilität so typisch waren für ihn, aber auch zeigen, wie tief er sich um die Anverwandlung der deutschen Kultur bemüht hat.

Kristallisationspunkt dieses Versuchs einer Heimkehr war die kleine Landsynagoge in Staudernheim, Am Wolfsgang 3, an deren Errichtung Endes des 19. Jahrhunderts auch die Familie Wolff ihren Anteil hatte. Dieses kleine Gebäude, dessen Nutzung als Gotteshaus, HJ-Heim, Rumpelkammer und Garage die grausamen Wechselfälle deutscher Geschichte geradezu idealtypisch widerspiegelt, wollte Ray wieder zu einem Ort der Begegnung, der Kultur machen, zu einem Beweis, dass in und um Staudernheim Juden gelebt und gewirkt haben. Neben der unüberschaubaren Zahl anderer Projekte, die der Sammler, Historiker und Buchmacher Ray Wolff in seinem Leben betrieben hat, war dies das beständigste, emotionalste, am intensivsten verfolgte. Als Netzwerker und kleiner Menschenfischer, der er auch war, hat Ray mit bewunderungswürdiger Beharrlichkeit über die Jahre Mitstreiter und Mitstreiterinnen gefunden, die seine Herzenssache auch zu ihrer gemacht haben. Die restaurierte Sandsteinfassade der Synagoge zeigt, dass das Herzblut nicht umsonst eingesetzt worden ist.

Bei seiner Mission ist Raymond durchaus selbstbewusst, ja fordernd aufgetreten. Er fühlte sich im Recht und hatte es auch auf seiner Seite. Mit dieser Unbedingtheit hat er Leute manchmal überfordert, verschreckt, ja vor den Kopf gestoßen, und tatsächlich hat es nicht an schäbigen Versuchen gefehlt, ihn auszubooten und abzudrängen. Auch seinen Unterstützern hat es Ray nicht immer leicht gemacht, doch mir und wahrscheinlich allen anderen Mitgliedern des Synagogenvereins Staudernheim war immer bewusst, woher diese Dünnhäutigkeit und Empörungsbereitschaft herrührte: aus einer schwer beschädigten Jugend und dem steten Bewusstsein eines Außenseitertums, welches sich auch im heutigen Deutschland nicht sicher wusste. Rays Leben ist ein Beweis dafür, dass sich die Schrecken des Völkermords an den Juden über Generationen hinzieht.

Rays eminentes Wissen, seine herrliche Exzentrik, seine ganze schillernde Persönlichkeit werden schmerzlich fehlen. Ich selbst werde vor allem seinen Humor vermissen, diese Bereitschaft, sich über alles und jeden, hauptsächlich aber über sich selbst lustig zu machen und die ganze Welt in bunte, blubbernde Albernheit aufzulösen. Uns als Verein bleibt die Aufgabe, die wiedererstandene Landsynagoge in Staudernheim mit Leben zu füllen und als Beweis für jüdisches Leben in unserer Mitte zu erhalten. Wenn das gelingt, wäre viel von der Tragik des Lebens von Ray Wolff genommen.